Entwicklung ländlicher Raum – 6 Thesen

Die Bevölkerung des ländlichen Raumes schrumpft – aber über 3/4 der Deutschen wollen auf dem Land oder in kleineren Städten leben.

Die Bevölkerung des ländlichen Raumes schrumpft – aber über 3/4 der Deutschen wollen auf dem Land oder in kleineren Städten leben. Ein Gegensatz – und ein Potenzial für den ländlichen Raum.

Ein Potenzial, das seinerseits auf Potenziale trifft. Denn trotz negativer demografischer Entwicklung besitzt der ländliche Raum, dank zahlloser Initiativen und umfänglicher Förderung sowie durch seine Eigenart, viele Qualitäten und Vorzüge, auf denen aufgebaut werden kann.

Dennoch: Bevölkerungsschwund, ökonomische und kulturelle Abwärtsspirale verstärken sich ohne Eingriff selbst. Sie verstärken gleichzeitig das ungebremste Wachstum der Metropolen. Eine negative Eigendynamik – die Probleme des ländlichen Raumes sind die Probleme der Metropolen.

Die Bedürfnisse und Probleme des ländlichen Raumes werden oft unzureichend erfasst. Die Lebenswirklichkeit der Betroffenen und ihre Entfremdung von Politik und Medien wird als ‚abgehängt fühlen‘ oder mangelnde Flexibilität interpretiert, im schlimmsten Fall abgewertet. Ein Nährboden für Populismus – und eine Gefahr für die Demokratie.

  1. Großer Wurf – Komplexität und Führung

Dringlichkeit wie Dimension der Aufgabe sowie die Komplexität aller zusammenwirkenden Faktoren erfordern ein koordiniertes Vorgehen. Es muss eine Vielzahl von Akteuren integriert werden, teilweise widerstrebende Interessen, „Besitzstände“ und überkommene Strukturen wie Handlungsmuster müssen verändert werden – auch um den Preis unbequemer Entscheidungen.

Die Entwicklung des ländlichen Raumes bedarf ebenso einer kompakten Strategie wie politischer Führung.

 

  1. Paradigmenwechsel – Proaktiv statt Reaktiv

Die weitere Entwicklung des ländlichen Raumes bedarf eines grundlegenden Wechsels. Bisher wurde zu großen Teilen auf Bevölkerungsschrumpfung allein mit Reduzierung der entsprechenden Strukturen reagiert. Dieses Vorgehen führte wiederum zu weiterer Verschlechterung der Lebensbedingungen auf dem Land und verstärkte die Landflucht.

Nötig ist eine strategische und situationsbezogene Angebotspolitik. Es müssen Entwicklungsimpulse gesetzt statt Abwanderungsgründe geschaffen werden. Die Stärkung und der Ausbau von Strukturen und Lebensqualität müssen als Investition in die Zukunft des ländlichen Raumes und das politische System unseres Landes begriffen werden.

 

  1. Integration – Menschen und Kompetenz vor Ort stärken

Eine stabile Entwicklung des ländlichen Raumes wird nur mit den Kompetenzträgern vor Ort und durch die Akteure vor Ort gelingen. Allein die unmittelbare Kenntnis der Problemlagen in den Regionen sowie das Engagement vor Ort können politische und strukturelle Richtungsentscheidungen produktiv machen.

Es bedarf einer größtmöglichen Ermächtigung der unmittelbar Betroffenen und Dezentralisierung von Strukturen zur Ermöglichung dieser Ermächtigung. Andernfalls werden alle Aktivitäten ins Leere laufen.

 

  1. Kernaufgabe – Lebensmittelpunkt durch Arbeit

Menschen folgen der Arbeit – und Arbeit folgt den Menschen. Die Krise des ländlichen Raumes hat ihre Ursache im Arbeitsplatzabbau der industrialisierten Landwirtschaft, des Zusammenbruchs von lokalen Industrien und einhergehender Dienstleistungsarbeitsplätze.

Eine nachhaltige Stärkung des ländlichen Raumes entsteht durch die Sicherung vorhandener Arbeitsplätze und die Ansiedlung neuer Arbeitsplätze bzw. der Ermöglichung neuer Arbeitsformen (Homeoffices, dezentrales arbeiten etc.). Dazu bedarf es einer entsprechenden Justierung von Wirtschafts-, Ansiedlungs- und Förderpolitik.

Eine strukturelle Abkehr von globaler Arbeitsteilung hin zu Industrieproduktion 4.0 vor Ort und die mögliche Dezentralisierung von Arbeit durch digitale Arbeitsplätze eröffnet hier im wachsenden zusätzliche Spielräume.

Diese Arbeitsplätze müssen jedoch auch als Wohn- und Lebensplätze attraktiv sein. Deshalb werden Arbeitsplatzsicherung und -aufbau nur im Verein mit der Schaffung der erforderlichen Infrastrukturen gelingen.

 

  1. Infrastruktur – zentraler Ermöglicher

Ohne das Vorhandensein entsprechender Infrastrukturen kann ländlicher Raum nicht entwickelt und stabilisiert werden. Infrastruktur ist dabei im weitesten Sinn zu begreifen, insbesondere hier muss der Paradigmenwechsel zum proaktiven, steuernden Handeln ansetzen. Folgende Bausteine müssen zwingend ineinandergreifen:

Verkehrsinfrastruktur und ÖPNV

Es ist im maximal möglichen Umfang eine Angebotspolitik zu gewährleisten. Alle nationalen und internationalen Erfahrungen zeigen, dass Verkehrsinfrastruktur und ÖPNV-Angebote die zwar teuerste aber essentielle Infrastruktur für den ländlichen Raum darstellen.

Breitbandausbau – maximal digital (oder: smart country)

Nahezu ebenso essenziell ist die lückenlose und leistungsfähige Versorgung des ländlichen Raumes mit Datenanbindung. Weder Arbeitsplatzaufbau und -sicherung noch adäquate Teilhabe am gesellschaftlichen Leben überhaupt werden ohne umfassende Breitbandversorgung möglich sein.

Bildung

Schulen aller Formen und Stufen sowie Kindergärten sind die Anker für Familien, insbesondere von wirtschaftlich und sozial aktiven Menschen (vulgo: Leistungsträgern) vor Ort. Die Erfahrung zeigt auch hier: werden diese Einrichtungen (vor allem Gymnasien) geschlossen, wandern diese Familien sofort ab.

Medizinische Versorgung

Für jeden Menschen stellt die medizinische Versorgung einen wichtigen Faktor für den Verbleib bzw., die Entscheidung für den Lebensmittelpunkt im ländlichen Raum dar. Dies betrifft sehr stark Familien und deren Kinder  – und die zahlenmäßig wachsende ältere Bevölkerung. Medizinische Dienstleistungen vor Ort bilden die Voraussetzung für ein langes selbstbestimmtes Leben und sind ein entscheidendes Gegenargument für den Wegzug zu den Kindern oder Pflegeheime in die Städte.

Jede Form von Facharztversorgung stellt einen ebenso starken Attraktor wie das Vorhandensein von  Bildungseinrichtungen dar.

Handel und Dienstleistungen

Neben der Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs und basischen Dienstleistungen (Handwerk, Finanzinstitute) stellen Versorgungseinrichtungen auch soziale Anker in ländlichen Regionen dar. Es existieren bundesweit umfangreiche Erfahrungen mit Modellprojekten (s. OSV: GrosseEmma), die es zu adaptieren und entwickeln gilt.

Wohnen

Die Wohnungswirtschaft steht vor zwei Hauptaufgaben: dem Umgang mit wachsenden Leerständen nicht mehr benötigter oder nicht marktfähiger Wohnungen bis hin zu deren Abriss. Zum anderen der Schaffung bedarfsgerechten Wohnraums z.B. barrierefreier, familiengerechter oder höherpreisiger, moderner Wohnungen. Der Mangel an passendem Wohnraum zählt in wachsendem Maße zu den Abwanderungsgründen im ländlichen Raum.

 

  1. Lebendige Strukturen – dezentrale Zentralität und differenziertes Herangehen

Lebendige Gemeinden sind attraktiv – der soziale Zusammenhalt in einer Kommune. Lebendigkeit entsteht durch engagierte Menschen – aber sie braucht strukturelle Voraussetzungen. Die Stärkung, Unterstützung und Würdigung des Ehrenamtes ist eine wesentliche Voraussetzung. Konzentration auf Ortskerne, Vermeidung von Flächenfraß und Wucherung von Gemeinden schaffen kompakte Orte. „Dezentrale Zentralisierung“ von Verwaltungs- und Versorgungsfunktionen in Mittelzentren auf kleinstmöglicher Ebene ermöglichen Mittbestimmung, Funktionalität und Lebensqualität vor Ort.

 

 

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6 Thesen ländlicher Raum

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